Donnerstag, 8. Mai 2008

Von den „Wohlgesinnten“ zum Verstehen

„Ich wollte zeigen, wie in einer relativ normalen abendländischen Gesellschaft kultivierte Individuen einem kollektiven Wahn verfallen. Die Deutschen sind wir, jeder ist ein Deutscher. Sadisten gibt es überall, aber sie interessieren mich nicht besonders, mir geht es um die Normalität des Totalitarismus. Moralische Urteile in den Begriffen von Gut und Böse werden der Wirklichkeit nicht gerecht“, sagt der Schriftsteller Jonathan Littell über seinen französischen Roman Les Bienveillantes/Die Wohlgesinnten.

Dieser war Gegenstand unseres zweiten Trialoges, an dem Prof. Graf, der Künstler Ossada und ich mitgewirkt haben. Drei Stunden lang haben wir dabei versucht, ein erstaunliches Buch zu erschließen, das gelesen werden will, das verschlingt und für die Fragen der Gegenwart sensibilisiert, wie man es nur sehr selten erlebt.

In meinem Beitrag zur Runde bin ich auf die große Frage der Inspirationsquelle des Autors eingegangen, seine Erfahrungen während seiner Zeit auf dem Balkan, Tschetschenien und Ruanda, seine beim Verlag Fata Morgana erschienen ersten literarischen Versuche (publiziert als Études), Umberto Ecco, seine Referenzen an Villon, Dostojewski und Flaubert sowie seine Übersetzungen von Genet und De Sade. Neben Littells größten filmischen Vorbild, Claude Lanzmanns Shoah-Dokumentation, ging es aber auch um Viscontis Die Verdammten, Cavanis Der Nachtportier und die Frage, wie die zahlreichen im Original des Buches enthaltenen deutschen Begriffe im Französischen wirken.

Jorge Semprún, der Littell maßgeblich zum Prix Concourt verholfen hatte, sagte kürzlich: "Am Ende werden nicht die Historiker, sondern die Künstler, Schriftsteller und Filmregisseure darüber entscheiden, wie ein Geschehen erinnert wird, mit dem kaum noch jemand persönlich und schicksalhaft verbunden ist."

Und das ist auch das große Verdienst dieses Buches: daß es uns nicht auf der Oberfläche treiben läßt, sondern uns bis ganz nach unten mitnimmt und uns selbst in die Pflicht nimmt, zu der Vielzahl von wahren und falschen Ansichten in der Geschichte Stellung zu beziehen und nachzudenken. Ganz wie im richtigen Leben!

Einen Mitschnitt des dreistündigen Gespräches kann man hier nachhören. Einen zusammenfassenden Radiobeitrag gibt es ebenfalls.